Südtirols Bunkerlandschaft
Satte, leuchtend-grüne Wiesen, dichte Wälder und atemberaubende Bergspitzen. Eine idyllische Naturlandschaft, die man so nur aus den Bilderbüchern kennt. Wer würde ahnen, dass Südtirols Landschaft gut getarnte Bauwerke mit kalten Räumlichkeiten und geheimen Eingängen versteckt, die nur das geschulte Auge zu sehen vermag.
Heute begleitet uns der Südtiroler Architekt und Gründer des Institutes für angewandte Bunkerologie Heimo Prünster auf eine spannende Reise durch Norditaliens Verteidigungssystem: dem „Vallo Alpino del Littorio“. Die kolossalen Bunker des „Vallo Alpino“ erstrecken sich entlang der Alpengrenze und sind ihm seit seiner Jugendzeit bekannt. Eng, kalt und ohne Fenster, Gebäude aus denen man am liebsten gleich wieder fliehen möchte. Trotzdem waren sie für ihn und fast alle jungen Südtiroler der 90er Jahre Orte der Freiheit, an denen man sich der Erwachsenenkontrolle entziehen konnte, Mutproben ablegen musste oder Partys feierte – eigentlich ein Widerspruch in sich. Lange Zeit nach dem Krieg wusste niemand etwas Genaueres über Südtirols Bunkerlandschaft und dessen Ausmaß. Das fehlende Interesse an diesen Bauten hing eng mit den traumatischen Ereignissen des 2. Weltkriegs zusammen. Laut Heimo, ein heikles Thema, das vor allem die ältere Generation an die Kriegszeit, die Diktatur Mussolinis und den Faschismus erinnert.
Überreste einer unterirdischen Welt
Im Rahmen seiner Diplomarbeit hat er sich erstmals intensiv mit dem Vallo Alpino auseinandergesetzt. Dokumentationen und Akten hatte er dazu kaum gefunden. Aber genau deshalb war er damals von der Bunkerlandschaft Südtirols so fasziniert: Er wollte dem Unerforschten auf den Grund gehen. „Das passiert in der heutigen Zeit fast gar nicht mehr, dass ein 100 Jahre altes Gebäude in Südtirol steht und niemand weiß etwas Genaueres darüber“, erzählt Heimo. Erste Anhaltspunkte gaben ihm Alessandro Bernasconi und Gianni Muran, zwei Italiener mit einer außergewöhnlichen Leidenschaft für Bunker, die echte Pionierarbeit leisteten. Denn die Pläne und Akten über den Bau der Bunker waren überall auf der Welt verstreut und lange Zeit unter Geheimhaltung. Erst in den 1990er Jahren wurden sie öffentlich zugänglich gemacht. „Die gefundenen Dokumente sind hauptsächlich aus der Nachkriegszeit. Oft unvollständig und nur zweitklassiges Material, sogenanntes „materiale scartato“. Aus der Originalbauzeit ist nur wenig Material vorhanden.“
Der Vallo Alpino – ein Totalversagen
Begonnen wurde mit dem Bau erster Verteidigungsanlagen schon Anfang der 1930er Jahre an den Grenzen zu Frankreich und Jugoslawien. Eine Absicherung an den Grenzen zu Österreich und der Schweiz schien in diesen Jahren nicht nötig. Dies änderte sich jedoch 1938 nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Auch wenn Hitler und Mussolini im Stahlpakt 1939 ihre Freundschaft besiegelten, so war Mussolinis Misstrauen gegenüber Hitler geweckt. Heimlich ließ er ein kolossales Verteidigungssystem entlang der Alpengrenze errichten: Den „Vallo Alpino del Littorio“ im Volksmund auch als „linea non mi fido“ bekannt. Innerhalb weniger Monate von Ende 1939 bis in den Herbst 1940 wurde der Wall im Eiltempo errichtet.
Für den Bau wurden ungefähr an die 3.000 Parzellen den Südtirolern enteignet. Es war die Zeit der Option und viele entschlossen sich dazu auszuwandern. Die Südtiroler Bevölkerung fühlte sich ungerecht behandelt, hintergangen und im Stich gelassen. Und auch wenn keine Zwangsarbeiter am Bau beteiligt waren, sondern nur italienische Baufirmen beauftragt wurden, so waren die Bunker für die einheimische Bevölkerung Fremdkörper.
Über 1.000 Bunker waren geplant, 306 wurden von vielen tausenden regulär bezahlten Arbeitern fertiggestellt und weitere 135 blieben unvollendete Baustellen. Ein Projekt mit einer unvorstellbaren Dimension, mit gewaltigem Ausmaß. Heimo vergleicht das Großprojekt des Vallo Alpino mit dem Bau der Brennerautobahn. „Innerhalb von einem Jahr sind im Südtiroler Teil des Alpenwalls mehr als 1, 68 Millionen Kubikmeter Betonmenge verbaut worden. Dieselbe Betonmenge wie für den Bau der Brennerautobahn bis Salurn.“ Eine gewaltige Masse, vergleichbar mit einem Würfel, mit einer Grundfläche 100 × 100 Meter und eine Höhe von 150 Metern. Die Errichtung dieser Anlage war eine extreme Herausforderung und schlussendlich eine pure Ressourcenverschwendung. Denn der Vallo Alpino war schon während des Baus veraltet und nicht auf eine Bekämpfung schwer gepanzerter Fahrzeuge ausgelegt.
Geheim war der Alpenwall jedoch schon lange nicht mehr. Deutsche Spionagefotos dokumentierten das absurde Vorhaben Italiens. Viele der Fotografien entstanden in Eile und in der Gefahr, entdeckt zu werden, und sind deshalb oft unscharf oder schwer einsehbar.
Unsichtbare Betongiganten
Heutzutage ist das Thema Bunker in Südtirol nicht mehr tabu. Die letzten Jahre hat Heimo viel Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit geleistet. Im Auftrag des Südtiroler Landesmuseums Festung Franzensfeste leitete er von 2019 bis 2022 das erste Forschungsprojekt zum Alpenwall. Dieses wird im Herbst 2023 präsentiert werden. Heimos Augen strahlen. Er ist ganz aufgeregt, denn endlich geht was weiter. „Den Besuchern werden eine genaue Online-Karte mit den verschiedenen Standorten der Bunker sowie Informationen über geplante und fertiggestellte Bunker präsentiert. Diese Karte wird ein weiterer Durchbruch zu diesen letzten Festungen der Neuzeit sein.“ Südtirols Bunker sind perfekt in die Landschaft eingegliedert. Jeder Bunker ist einzigartig und weist eigene Merkmale auf. Je nach Lage und örtlicher Gegebenheit sind sie anders getarnt: vielfach als Felsimitation oder Erdhügel, manche sogar als detailgenaue Nachbildung eines ortsüblichen Bauernhauses, mit Herzen auf Fensterläden. Die Umgebung wurde zur „Kampfmaschine“, denn der Feind sollte beim Angriff überrascht werden.
Bunkersperren wurden sowohl am Talboden als auch an alpinen Bergkämmen errichtet. Meist hatte der Angreifer mindestens 3 befestigte Sperrgürtel zu durchbrechen. Diese sogenannten Sperren befanden sich an strategischen Punkten wie Talgabelungen, Engstellen oder Geländevorsprüngen. Größtenteils gingen sie von einer Talseite zur anderen und bestanden aus einer funktionalen Einheit: aus mehreren Bunkern, Panzerhindernissen und Minenfeldern. An den Seiten der Sperren befanden sich die Artilleriebunker, während am Talboden die normalen Kampfbunker und/oder Panzerabwehrkanonen stehen. Vom Kommandobunker aus, oft mit Observationstürmen ausgestattet, konnte man die Gegend ausspähen, Signale über Infrarotlicht senden und Handlungsanweisungen über Radio oder Telefon übermitteln. Dabei war ein perfektes Zusammenspiel der Anlagen nötig. Denn die Bunker hatten nur ein begrenztes Schussfeld und wurden so ausgerichtet, dass sie sich gegenseitig Deckung geben. Die Distanz zwischen den Bunkeranlagen wurde von der Reichweite der Waffen bestimmt. Italiens Bunkerlandschaft scheint also bis ins kleinste Detail durchdacht gewesen zu sein.
Wie es aber der Zufall will, waren die Bunker bis zum Schluss nicht bewaffnet. Der Alpenwall hätte daher sowieso nicht funktioniert. Schon vor der Fertigstellung des Alpenwalls wurde der Monsterbau überflüssig. Beim Einmarsch der deutschen Truppen wurde kein Widerstand geleistet und kein einziger Befehl zur Verteidigung erteilt. Heimo spricht von „Glück und Segen“, dass es nie zu einer Verwendung der Bunker kam. „Es wäre nämlich ein Massaker gewesen und Südtirol ein einziges Schlachtfeld.“ Verwendet wurden nur einige Bunker zur Zeit des Kalten Krieges im Rahmen des Nato-Verteidigungskonzepts. Danach sind sie vom Militär an das Land Südtirol übergegangen und versteigert worden. Heute sind die meisten Bunker in Privatbesitz. „Nur 20 Bunker stellte das Land unter Denkmalschutz“ berichtet Heimo kritisch. „Die Entscheidung wurde zwar von einer bemühten Kommission getroffen, jedoch fehlte die Wissensbasis für nachhaltige Entscheidungen. Diese Bunker liegen also irgendwo im Land verstreut. Sinnvoller wäre es gewesen, wenn man wichtige Teile einer Sperre (eine sogenannte funktionale Einheit) unter Denkmalschutz gestellt hätte. So hätte man dieses wertvolle kulturelle Erbe auch öffentlich erlebbar machen, die vielschichtige Vernetzung der Bauten im landschaftlichen Kontext erkennen und die unterschiedlichen Aufgabenbereiche aussagekräftig aufzeigen können.“
Ein zweites Leben
Heute stellt sich die schwierige Frage, ob und wie man diese kolossalen Betongiganten anderweitig nutzen kann, was sich aufgrund der dicken Mauern und der eigenen Bauform besonders schwierig gestaltet. Trotzdem sind einige dieser faszinierenden Bauwerke wieder zum Leben erweckt worden und bekommen so eine zweite Chance. Eine der großen Bunkeranlagen Südtirols ist der Gampen Bunker gleich hinter dem Scheitelpunkt am Gampenpass auf dem Deutschnonsberg. Es wäre wohl untertrieben zu sagen, dass es sich hier um ein Meisterwerk der Ingenieurskunst handelt – es ist wie ein im Berg verstecktes Hochhaus. Heimo zeigt mir die Rekonstruktion des Bunkers. Auch hier hatte er schon seine Expertise unter Beweis stellen können. „Es sind mehrere unterirdische Bunker, die über 4 Ebenen ins Berginnere mit langen Gängen und Treppenhäuser verbunden worden sind. Ein Stützpunkt, auch „Camposaldo“ genannt. Die gesamte Anlage ist 145 Meter hoch und beinahe 500 Meter lang.“ Mir fehlen die Worte. Es ist ein unterirdisches Labyrinth aus Gängen, Nischen und Ausbuchtungen. Ein gefährliches Riesenmonster! Weitere Zeitzeugen der Geschehnisse sind das sogenannte Bunker Mooseum in Moos in Passseier, das Bunkermuseum in Toblach, der zur Festung Franzensfeste gehörende Bunker Nr. 3 und seit Kurzem die Dauerausstellung „Eingebunkert. Bunker in Südtirol“ im Inneren des Landesmuseums Festung Franzensfeste.
Wer auf der Suche nach einem besonderen Ort der Kunst und Kultur ist, der sollte einen Blick in den Bunker Susa Nr. 23 in Tartsch im Vinschgau wagen. Dieser Bunker hat eine wahre Transformation durch den Designer und Künstler Benny von Spinn erlebt. Aus einer Kriegsmaschine wurde ein Friedensdenkmal. Zu Lebzeiten des Künstlers wurden hier Feste gefeiert, Veranstaltungen organisiert und man konnte Ausstellungen besuchen. Ein Sinnbild für Kreativität, Freiheit und Begegnung. In Mühlbach befindet sich ein weiterer Bunker mit einem ganz anderen Verwendungszweck. Hier hat der Südtiroler Sternekoch und Käse Affineur Hansi Baumgartner einen optimalen Ort für die Reifung und Veredelung von Käsespezialitäten gefunden. Über 200 Sorten werden in den kühlen Räumen mit maximal 10 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 85 % gelagert. Modrig, dunkel und kalt – die richtigen Bedingungen, damit Sporen, Pilze und Mikroorganismen entstehen können. Veredelt wird der Käse mit Lakritze, Schüttelbrot und Bier, ummantelt mit Kakaobohnen und verfeinert mit Algen. Erworben können die runden Kostbarkeiten in einem kleinen Laden in Vahrn bei Brixen. Auch „Stockener’s Genussbunker“, ein Natursteinbunker in der Nähe von Bruneck wird als Reifungshöhle und Lagerraum für Südtiroler und internationale Käsespezialitäten wie dem bekannten Blauschimmelkäse genutzt.
Aber es gibt noch viele weitere Möglichkeiten diese feuchten, dunkeln Höhlen zu verwenden: wie etwa als Enothek, Destillationsanlage für Whiskys oder Weine, um Pilze zu züchten oder als Übungsort für die Feuerwehr. Sogar die Marchhütte auf fast 2.500 m Höhe unter dem Marchkinkele war einst einer der 50 riegelförmigen Bunker, die an der Grenze zwischen Österreich und Italien erbaut wurden. Eine ganz andere Nutzungsart beinhaltet das Konzept für den „Schusterbauer Bunker“ in Schabs, welches Heimo Prünster im Jahr 2014 für die Gemeinde entworfen hatte. Dabei sollte das menschliche Erleben des Bunkers im Vordergrund stehen und die Möglichkeit bieten, den Bunker in seiner ursprünglichen Räumlichkeit zu erfahren: Vollkommene Abgeschottenheit von der Außenwelt, Totenstille, Enge und Dunkelheit sind die markantesten Eigenschaften dieses Gebäudes. Dabei sollte nicht nur der Innenbereich der Allgemeinheit geöffnet werden, sondern auch der Außenbereich, und zwar durch die Realisierung eines Spielplatzes oberhalb des Bunkers. Dort sollten Einzelteile des Bunkers 1:1 nachgebaut werden: Eine halbierte Schießscharte sollte die dicken Mauern offenbaren und ein Klettergerüst den Mannschaftsraum abbilden. Ein Spielplatz befindet sich auch auf einem alten Bunker des Alpenwalls bei der Naherholungszone Bunker Spinges. Hier stehen heute Spiel, Spaß und Erholung in der Natur im Vordergrund.
Spuren der Zeitgeschichte
Auch wenn für viele Bunker ein neuer Verwendungszweck gefunden wurde, so bleiben doch die meisten Bunker gut getarnt unter einer dichten Vegetationsschicht versteckt. In der Landschaft integriert und assimiliert, bleiben sie Zeugen einer längst vergangenen Zeit. Aktuell wecken Bunker in ganz Europa verstärkt Interesse und immer mehr Bewunderer suchen sie im Rahmen von Wanderungen auf. Falls Ihr Euch also angesprochen fühlt, solltet Ihr diese beeindruckenden Relikte aus vergangener Zeit aufsuchen:
- Wie aus dem Felsen gemeißelt befinden sich die Bunker hoch oben an den steilen Felswänden an der Westseite vom Kreuzbergpass. Kleine, kalte Bauwerke, grau in grau.
- Nein, es sind keine Geröllhalden und auch keine harmlosen Hügel, sondern freistehende Bunker. Diese Bauweise ist wiederum ganz anders: Sie findet man im Höhlensteintal, bei Spinges oder dem Helm in den Sextner Dolomiten.
- Große Bunkeranlagen findet man beim Ochsenbühel, zwischen Franzensfeste und Schabs, beim Tartscher Bühel bei Mals und am Gampenpass. Hier stellt man sich einem gewaltigen Labyrinth von Gängen in einer komplett ausgehöhlten Felsformation. Nur der Observationsturm ragt meist heraus. Viele Stellen in diesen Stollenbauten sind allerdings einsturzgefährdet!
- Eine atemberaubende Tour bietet die alte Militärstraße am Brenner Grenzkamm. Hier kann man nicht nur die Traumaussichten über das Eisacktal bis in die Dolomiten hinein bewundern, sondern auch all die Bunkeranlagen und Grenzkasernen.
- Die nur 9 km lange Rundwanderung im Vinschgau, direkt an der Grenze zwischen Österreich und Italien, ist ebenfalls empfehlenswert. Hier kann man die Panzersperre Plamort, die sogenannten Drachenzähne, bewundern und die verschiedenen Bunker rundherum betreten.
Die Welt dieser unterirdischen Giganten zu erkunden, ist für Heimo neben seinem Beruf als Architekt und Visualisierer zu einer Lebensaufgabe geworden. Immer wieder füllen sich historische Lücken und es ergeben sich neue Einsichten in diese fast mystischen Bauwerke. Betonlabyrinthe, die definitiv einen Besuch wert sind.